Gauck in Süddeutsche Zeitung vom 31.07.2016
Es ist eine Rede zur Seelenlage der Nation: Bundespräsident Joachim Gauck sprach beim Trauerakt im bayerischen Landtag zu den Angehörigen der Opfer des Amoklaufs, aber auch zu den verunsicherten Bundesbürgern. Die SZ dokumentiert das Manuskript der Rede in Auszügen:
In Momenten wie diesen stehen wir fassungslos vor den Abgründen der menschlichen Existenz. Wir erschrecken erneut davor, was Menschen Menschen antun können. Nicht nur in irgendeiner Ferne, sondern hier, in unserer gewohnten Umgebung, so verstörend nah und deshalb so extrem erschreckend. Taten wie diese lassen uns erstarren, sie führen uns an die Grenze dessen, was wir ertragen können.
Wer auch immer glaubt, seine Person oder sein Dasein gewinne an Bedeutung, wenn er möglichst vielen selbstherrlich und willkürlich das Leben nimmt, soll wissen: In diesen Abgrund des Denkens werden wir ihm
Worüber wir aber erneut nachdenken müssen, das sind die Ursachen, die Menschen wie den Täter von München zu derart mörderischen Taten treiben. Da stoßen wir auf junge Männer mit labilen Charakteren, die sich von ihrem Umfeld gedemütigt, ausgegrenzt, nicht angenommen sehen.
Oft sitzen sie vor dem Computer auf der Suche nach Vorbildern, die sich an diesem Umfeld mitleidlos rächen und in der medialen Berichterstattung dann zu trauriger Berühmtheit gelangen. Das ist eine Realität, die Angst macht. Wieder stellt sich die Frage der Verantwortung, die für Betroffene, für Freunde und Familie, für Ärzte, ja, für die ganze Gesellschaft erwächst.
Allzu schnelle Schlüsse verbieten sich: Weder steckt in jedem, der eine Persönlichkeitsstörung aufweist, ein Straftäter; noch entlässt sie einen Straftäter gleich aus seiner persönlichen Verantwortung. Gewiss ist aber: Diese Menschen planen ihre Tat meist lange und präzise voraus. Es gibt oft Anzeichen für die Entwicklung – wenn man sie denn wahrnehmen will und kann. Die Gesellschaft darf diese Menschen, gerade junge Menschen, nicht allein lassen und dulden, dass sie auf gefährliche Weise zu Randständigen werden.
Bei allem Entsetzen, bei aller Trauer, bei allen offenen Fragen hat der 22. Juli auch gezeigt, wozu der Mensch in seinen besten Momenten fähig ist. Gerade im Angesicht von Unglück, Katastrophe und Verbrechen offenbart er sein menschliches Gesicht. Vor gut einer Woche stand der Tat eines Einzelnen die Solidarität unendlich Vieler gegenüber. Auf das, was Angst und Schrecken verbreiten sollte, antworteten die Münchner, indem sie ihre Türen öffneten und Hilfe anboten. Das hat mich sehr bewegt ebenso wie die Anteilnahme aus aller Welt. In der Gemeinschaft der Vielen, die sich ein friedliches Miteinander wünschen, können wir das Vertrauen wiederfinden, das wir jetzt so dringend brauchen. Die Abfolge immer neuer Gewalttaten, die wir in diesen Jahren erleben, plötzlich so nah, in so kurzen Abständen, scheinbar ohne Ende, all das entsetzt uns. Ich verstehe gut, warum viele sagen, sie seien verunsichert. Warum sie sich fragen, ob sie noch ins Konzert, ins Kaufhaus, in die Kirche gehen können.
Wir können nur noch schwer auseinander halten, ob eine Tat im Namen einer Religion oder einer Ideologie begangen wurde, aus Fanatismus, Nationalismus oder Rassismus. Und doch verlangen wir Menschen nach Sinn und suchen Motive für das Geschehene. Wir betrachten zusammenfallende, nicht unbedingt aber zusammenhängende Ereignisse.
Auf diese Differenzierung – so schwer sie uns manchmal fällt und so viel sie uns abverlangt – müssen wir uns einlassen und somit auch die eigene Ratlosigkeit eingestehen. Denn wir stoßen auf Abgründe von Sinnlosigkeit und Destruktivität. Wenn so etwas geschieht, ist sowohl unser Bild vom Menschen als auch unsere Vorstellung einer göttlichen Ordnung gefährdet, für manche total in Frage gestellt. Falls Amokläufer und Attentäter etwas gemeinsam haben, dann wohl allein die Absicht, uns das Gefühl von Sicherheit und Normalität zu rauben.
Der Amokläufer will Rache nehmen an der Gesellschaft, von der er sich missachtet oder diskreditiert sieht. Der Terrorist will Furcht sähen, Furcht um unser Leben, unser Zusammenleben, unser Recht. Er verachtet den Frieden derer, die das Recht und das demokratische Miteinander leben und lieben.
Aber all denen, die aus unserer Heimat Orte der Furcht und des Schreckens machen wollen, den Attentätern und Amokläufern wie den Terroristen, werden wir eines nicht geben: unsere Unterwerfung. Sie werden uns nicht zwingen zu hassen, wie sie hassen. Sie werden uns nicht in der Gefangenschaft immerwährender Furcht halten. Wir werden bleiben, was wir sind: eine mitmenschliche, solidarische Gesellschaft. Und eine Gesellschaft, die sich Gefahren stellt.
Das haben wir bereits in München erlebt, als Polizistinnen und Polizisten sich dem Ernstfall gewachsen zeigten, als jede zufällig beteiligte Streife, jedes Mitglied einer Spezialeinheit bereit und in der Lage war zu tun, was notwendig war. Dafür danke ich allen Sicherheitskräften. In München hat sich gezeigt: Die Polizei ist einsatzfähig, der Staat ist handlungsfähig. So muss es sein, und so muss es bleiben, weil wir wissen: Die Bedrohungen dauern an. Die Verantwortlichen in der Politik erhöhen die Aufwendungen für die Sicherheit unseres Zusammenlebens.
Einen absoluten Schutz gegen Täter, vor allem Einzeltäter, die es darauf anlegen, Menschen in Verzweiflung zu stürzen oder zu töten, gibt es nicht. So viel Sicherheit kann ein Staat nicht bieten, erst recht ein demokratischer. Aber eine Allianz von Staatsorganen und wacher, aktiver Bürgergesellschaft bleibt die beste Versicherung dagegen, dass das zynische Kalkül der Gewalttäter aufgeht. In dieser Allianz liegt die Stärke der offenen Gesellschaft.
Liebe Angehörige, es wird dauern, bis Ihr Leben wieder Richtung und Sinn findet. Auch wenn wir Ihnen diesen Weg nicht abnehmen können, so wollen wir Sie begleiten, Ihnen Trost spenden, an Ihrer Seite sein. In aller Trauer und allem Mitgefühl bitte ich alle Familien der Getöteten: Erlauben Sie uns diese Gemeinschaft. Lassen Sie uns füreinander da sein – als Gemeinschaft, die den Toten Raum gibt in der Erinnerung und den Lebenden Frieden."
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